PRO/CESS

PRO/CESS

Innovation Corner

3-D-Sattel

Ein massgefertigter Sattel aus dem 3-D-Drucker

PRO/CESS: Dein Velosattel neu gedacht und individuell angefertigt

Du fährst leidenschaftlich Rad und würdest gerne noch länger und weiter fahren, als du es aktuell tust? Wenn nur diese Sitzbeschwerden nicht wären, die sich spätestens ab Kilometer X einstellen. Vielleicht hast du auch schon den einen oder anderen Sattel ausprobiert, einen breiteren Sattel, der dir empfohlen wurde, weil du eine Frau bist, oder einen Sattel mit Aussparung, um deine Nervenbahnen im Genitalbericht zu schonen? Aber bisher hat kein Sattel so wirklich gepasst?

Vielleicht kann dir da ein massgefertigter Sattel weiterhelfen, ein Sattel, wie ihn sich der junge Industriedesigner Tim Schütze in seiner Arbeit namens PRO/CESS vorstellt?

Das Wichtigste gleich vorweg: bei PRO/CESS geht es, wie der Name schon sagt, (noch) nicht um ein fertiges Produkt, nämlich einen marktreifen Velosattel, sondern um den gestalterischen und theoretischen Prozess, der zu diesem Produkt, beziehungsweise Prototypen, führt. Der Weg zu diesem Sattelmodell stellt die klassischen Denkmuster in Bezug auf gesellschaftliche Normen und industrielle Massenfertigungsverfahren auf den Kopf und bietet dir deine ganz individuelle Sattellösung. Ebenso wichtig und innovativ wie der eigentliche Sattel, auf dem du am Ende sitzt, ist demnach der gesellschaftskritische Ansatz, der dahintersteckt.

Als Resultat wird ein Velosattel angestrebt, der nach deinen ganz persönlichen, anatomischen Voraussetzungen – unabhängig von deinem Geschlecht - geschaffen wird. In der Realität variiert der Sitzknochenabstand zwischen Radfahrer*innen nämlich um bis zu 50 Millimeter, was nicht heissen muss, dass der Sitzknochenabstand einer Frau – wie landläufig angenommen – automatisch breiter ist als der eines Mannes. Vor allem ist kaum ein Mensch symmetrisch gebaut, auch mehr oder weniger ausgeprägte Dysbalancen, Verkürzungen und Fehlstellungen können durch einen massgefertigten Sattel ausgeglichen werden und für viel mehr Fahrkomfort sorgen.

Doch es geht noch weit darüber hinaus – bei PRO/CESS werden die Kund*innen und eine ganze Community in den eigentlichen Fertigungsprozess miteinbezogen, was letztendlich sogar dazu führen soll, dass der individuelle Sattel als Endprodukt langfristig nicht mehr als ein qualitativ guter Sattel im mittleren Preissegment kosten könnte. Die Vermessung deines Gesässes nimmst du selbst über eine App vor, 3-D-Drucker, die mittlerweile für den Eigengebrauch günstig zu haben sind oder die in Fablabs und Makerspaces zur Verfügung stehen, sowie günstige, neuartige Materialien ermöglichen die individuelle Produktion.

Wie das im Einzelnen funktioniert, erfährst du nun.

Industrie- und Gesellschaftsnormen als Vorüberlegung

Selbst wenn die Rahmengrösse deines Bikes richtig ist, können Kontaktpunkte wie der Sattel Probleme bereiten, einfach deshalb, weil er nicht zu deiner Anatomie passt. Jedes Gesäss ist anders und selbst wenn der individuelle Sitzknochenabstand mittelweile im Angebot vieler Sattelhersteller mitberücksichtigt wird, ist es mit zwei bis drei Breiten, geschlossenen und offenen Formen sowie ausgewiesenen Herren und Damenmodellen nicht immer getan. Gerade letzteres stereotypisiert zwischen den Geschlechtern und geht von Normen aus, wobei das männliche Gesäss die Norm ist und das der Frau die Abweichung, für die es folglich in der Regel weniger Auswahl gibt. Auch sogenannte Unisex-Sättel gehen von dieser Norm aus.

Es gibt massgefertigte Velorahmen genauso wie Schuhe oder Anzüge. Warum nicht auch Sättel? Zu teuer, war bisher die Antwort, denn ein gewisses Mass an Handarbeit ist gefragt und Massenproduktion nicht möglich. Somit rechnet sich das Einzelstück nicht.

Doch es gibt Hoffnung – und die kommt aus dem 3-D-Drucker! Bei einem 3-D-Druck spielt es keine Rolle, ob 200 Mal ein und dieselbe Datei ausgedruckt wird oder 200 verschiedene Dateien. Somit wird „individualisierte Massenfertigung“ möglich. Bei einigen marktreifen Sätteln kommt das 3-D-Druckverfahren sogar schon zum Einsatz, wie zum Beispiel beim Specialized Mirror Sattel oder dem Fizik Antares Versus Evo Adaptive 00. Aber auch diese Sättel sind (momentan) nur in zwei Grössen erhältlich und im Endeffekt massenproduziert. Der Ansatz von Tim Schütze geht weiter.

3-D-Druck
Tim mit einem funktionsfähigen Sattel

Entstehungsgeschichte und Denkansatz von PRO/CESS

PRO/CESS entstand im Rahmen von Tims Bachelorarbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Er erklärte uns im Interview, dass es ihm bei der Arbeit nicht um ein fertiges Produkt ging, sondern um seinen eigenen ideellen Anspruch als Gestalter, der die materielle Welt prägen kann und auch eine gewisse Verantwortung in Bezug auf unsere Konsumverhalten hat. Er möchte Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten in seinem Design reflektieren, deshalb ist ihm der sozialtheoretische Teil seine Arbeit, sowie der Gestaltungsprozess zunächst wichtiger als das Produkt. PRO/CESS soll damit als Denkanstoss für Verbesserungen verstanden werden. Das muss aber nicht ausschliessen, dass er den Sattel zusammen mit den richtigen Partner*innen und Investor*innen sowie nach weiteren Überarbeitungen an den Markt bringen könnte.

Tim, selbst ambitionierter Radfahrer, ist der Meinung, dass Veränderungen in der Velobranche schneller umgesetzt werden als in anderen Industriezweigen. Materialoptimierung ist hier ein stetes Thema. Carbon ist ein frühes Beispiel für einen Werkstoff, der in beliebige Formen und dann einer grösseren Interessengemeinschaft nahegebracht werden konnte. Ausserdem bietet die immer noch sehr männlich geprägte Velowelt einen guten Spielplatz, Geschlechterfragen neu zu diskutieren.

Denn im Endeffekt ergibt PRO/CESS einen „gendersensitiven“ Sattel. Er orientiert sich also an partikularen Bedürfnissen, ohne dabei unisex zu sein, da jeder Sattel individuell gefertigt ist. Hergestellt wird er mit additiven Verfahren, umgangssprachlich auch 3-D-Druck genannt, was die Realisierung jeder erdenklichen Form zu relativ geringen Material- und Produktionskosten ermöglicht. Tim geht dabei vom Individuum aus, nicht vom Produkt: „Wir brauchen keine Produkte, wir brauchen Prozesse“ heisst es in seiner Arbeit. Daher stammt auch der Name PRO/CESS. Der Sattel passt sich dem Individuum an und nicht umgekehrt.

Bei PRO/CESS handelt es sich nicht um eine feste Form, sondern um ein fluides, adaptives Konzept. So werden gesellschaftlich konstruierte binäre Oppositionen von Mann versus Frau oder „anatomisch unauffällig“ versus „anatomisch auffällig“ irrelevant und Datensätze, die mittels App erhoben werden, können beliebig ergänzt, geändert und optimiert werden, bevor ein Algorithmus daraus die Druckdaten generiert.

Tim ist einen Prototyp des Sattels selbst eine Weile Probe gefahren und kann das Feedback in Form von neuen Präferenzen bzw. Daten wiederum in die App eingeben, um die nächste Druckversion zu veranlassen.

Input, Algorithmus, Output – So kommst du zu deinem persönlichen Sattel

Über eine dezentrale App gibst du deine Daten als Input für den Sattel ein. Ein Besuch bei einem lokalen Bikefitting-Institut ist nicht nötig. Mit einer einfachen Computer-Vision-Technologie wird ein präziser 3-D-Abdruck deines Gesässes generiert. Vereinfacht gesagt, wird durch das Bilderkennungsverfahren SFM (Structure from Motion) anhand von zweidimensionalen Bildern ein dreidimensionales Oberflächenrelief erstellt. Dafür brauchen Nutzer*innen nur ein Smartphone und einen A-4-Ausdruck als Unterlage. Sie laden sich über die App ein spezielles Muster herunter und drucken es auf A-4-Papier aus. Anschliessend wird dieses auf eine gepolsterte Oberfläche gelegt, die Nutzer*innen setzen sich darauf und drücken ihre Sitzbeinhöcker in das Papier. Von diesem Abdruck werden Fotos aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen, welche dann als Basis für den SFM-Algorithmus dienen. Als Output werden numerische Daten zu Sitzbeinhöckerabstand und Druckpunktausdehnung generiert, die in den weiteren Schritten das CAD-Modell des Sattels, also letztendlich seine Form, Grösse, Polsterung und seinen Look, definieren.

Zusätzlich zum Sitzknochenabstand können noch weitere individuelle Präferenzen, z.B. Daten zur Sitzposition (sportlich gestreckt oder gemütlich aufrecht) sowie zur Flexibilität des Körpers (vor allem in Bezug auf Becken, Hüftbeuger, unterer Rücken) und das Körpergewicht in die App eingegeben werden. Diese Daten bestimmen vor allem die Basis des Sattels und die Grundform der Polsterung, während das Sattelgestell für alle Modelle gleichbleibt.

Vermessung des Gesässes
Sitzknochenabstand
Druckverteilung

Material und Strukturen: Formfindung und Fertigungsprozesse

Tim hat lange mit verschieden Materialen für das 3-D-Druckverfahren experimentiert. Da die Satteloberfläche aus einer gitterartigen Struktur besteht, die je nach individueller Anatomie und bevorzugter Sitzposition an bestimmten Stellen verdichtet werden kann, entschied er sich für den FDM-Druck (Fused Deposition Modeling) beim flexiblen Obermaterial (Padding), bestehend aus TPU (thermoplastische Elastomere). Bei der Basis kam der SLS-Druck (Selektives Lasersintern) mit leistungsstarkem Nylon zum Einsatz. Letzteres bietet eine beispiellose Stabilität und liess sich hervorragend mit dem „Fuse 1“-3-D-Drucker von Formlabs – einem Kooperationspartner von Tims Arbeit – bearbeiten.

FDM-Drucke wiederum bedürfen keiner Nachbearbeitung, sind relativ günstig und erreichen maximales Volumen bei minimaler Masse im Bereich des Paddings. Auch musste die richtige Eindruck-Härte des TPU-Materials ermittelt werden, damit es als Antwort auf die in der App erhobenen Daten (speziell in Bezug auf das Körpergewicht und den Anwendungszweck/die Sitzposition) an den richtigen Stellen verdichtet werden kann.

Prototypen
FDM-Druck beim Padding
SLS-Druck, Nylonbasis
Eindruckhärte

Aktuelles Entwicklungsstadium und Ausblick

Derzeit gibt es den Sattel als Prototyp in drei Versionen, doch das Interesse an Tims Arbeit ist gross. Im nächsten Schritt möchte der Designer konstruktives Feedback, das er bekommen hat, in die Weiterentwicklung einfliessen lassen und den Sattel zur Marktreife bringen. Insbesondere bei der App-Entwicklung gibt es noch Professionalisierungsbedarf: Aktuell laufen die einzelnen Programme als Dummy-Version auf Tims Rechner. Die momentane Ermittlung des Sitzknochenabstands ist noch sehr statisch, in Zukunft könnte er sich zum Beispiel auch vorstellen, das Gesäss in Bewegung auf dem Rad abzubilden und eventuell mit Bikefitter*innen zusammenzuarbeiten. Eine weitere Möglichkeit wäre, im nächsten Schritt den Sattel mit einem sogenannten Memory-Foam responsiver zu machen, damit das Gesäss einen bleibenden Abdruck im Sattel hinterlassen kann. Das würde natürlich wieder neue Algorithmen und Materialstudien erforderlich machen, auch wenn die Fertigungsprozesse und die Grundideen dieselben bleiben.

PRO/CESS: Ein Sattel mit Mehrwert

Teilhabe und leichter Zugang für alle ist die gesellschaftstheoretische Idee dahinter, ein modulares System, in dem sich unterschiedliche Teile der Community mit unterschiedlichen Expertisen und Assets im Dienst des Sattelprojekts vernetzen: Opensource Software, Entwickler*innen, die eine App bereitstellen, günstige Materialien, 3-D-Druckaufträge, die von Microfactories, einem Mitglied der Community oder der/dem User*in selbst realisiert werden und letztendlich die User*innen, die von Konsument*innen (Consumers) zu Prozessteilnehmer*innen, also zu „Prosumers“ werden. Das Projekt ist nicht an grosses Kapital und zentralistische Massenproduktionsstätten gebunden, lange Lieferketten werden vermieden.

Wie mehrfach erwähnt, ist der „unfertige Zustand“ des Sattels gewollt, aber wir können uns schon sehr gut vorstellen, wieviel Potenzial in PRO/CESS steckt:

Ein Sattel als gesellschaftskritisches Statement, der das Geschlecht als Differenzkategorie im Design überwindet, Partizipation ermöglicht und vor allem auch die Funktion erfüllen kann, bedürfnisorientiert Sitzprobleme kostengünstig zu lösen.

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